música popular brasileira
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Informação

>Brasiliens würdevolles Wachstum<

>Hungerbekämpfung als Basis für den sozialen Wandel in Brasilien

Brasiliens Bevölkerung wächst heute kaum noch. Dafür sind Millionen der Armut entflohen. Das einstige Entwicklungsland gilt als Beispiel für die Hunger- und Armutsbekämpfung.

Tjerk Brühwiller, Salvador da Bahia

Leben mit sieben Milliarden Menschen

Verschwunden sind die um Essen bettelnden Mütter und Kinder am Rande der Nationalstrasse BR-116 im Hinterland des Gliedstaates Bahia. Zehn Jahre ist es her, dass sich ihre verzweifelten Blicke in die Erinnerung des Durchreisenden gebrannt haben. In der Zeit dazwischen hat sich vieles verändert in Brasilien. Die Armut ist zurückgegangen und mit ihr der Hunger, die Unterernährung und die Kindersterblichkeit.

Laut den Statistiken sind 28 Millionen Brasilianer seit 2003 der Armut entflohen. Der Anteil Kleinkinder mit einem für Unterernährte typischen Wachstumsrückstand hat sich zwischen 1996 und 2009 von 13,4 auf 6 Prozent reduziert. Und die Kindersterblichkeit ist zwischen 1990 und 2008 von 53,7 auf 22,8 Promille gesunken.
Kampf dem Hunger

Brasilien gehört zu den wenigen Schwellenländern, die das erste Millennium-Entwicklungsziel erreichen werden: den Anteil der Hungernden an der Bevölkerung und der in extremer Armut lebenden Menschen zwischen 1990 und 2015 zu halbieren. Brasiliens Fortschritte gehen mit dem wirtschaftlichen Aufschwung einher. Sie sind aber vor allem auch auf den politischen Willen zurückzuführen – allen voran jenen des früheren Präsidenten Lula da Silva. Dem aus armen Verhältnissen stammenden Lula, der als Kind selbst Hunger gelitten hatte, ging die Halbierung von Hunger und Armut zu wenig weit. Kein Brasilianer solle hungern, versprach er vor seiner Wahl. Kaum im Amt, lancierte er 2003 das Programm Fome Zero («Null Hunger»). Ein Jahr später schuf er das Ministerium für soziale Entwicklung und Hungerbekämpfung, das eine Reihe von Sozialprogrammen koordiniert und dessen Budget sich in acht Jahren von 11,4 auf 38,6 Milliarden Reais (19,8 Milliarden Franken) erhöht hat.

Schon vor Lula existierten Programme zur Hungerbekämpfung auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Fome Zero übernahm die funktionierenden Projekte, kombinierte sie und weitete sie aus. Das Resultat war ein Paket aus über 30 nationalen Programmen, die den Zugang zu Nahrungsmitteln verbesserten und Produktionsanreize für Kleinbauern schufen. Ein Beispiel zeigt, wie die Programme ineinandergreifen: In etlichen Städten hat die Regierung öffentliche Kantinen für Einkommensschwache eingerichtet. Versorgt werden sie von Kleinbauern, was diesen dank Abnahmegarantien und fairen Preisen eine würdige Existenz ermöglicht. Von 2003 bis 2009 hat die Regierung 2,7 Milliarden Reais für den Kauf von rund 2,6 Millionen Tonnen Lebensmitteln in über 2300 Gemeinden ausgegeben.
Aufstieg der Armen

Das Flaggschiff von Fome Zero ist inzwischen allerdings ein wesentlich einfacher gestricktes Programm namens Bolsa Família, was sinngemäss übersetzt «Familien-Stipendium» bedeutet. Das Programm garantiert armen Familien ein minimales Einkommen und damit den Zugang zu Lebensmitteln. Über die Bolsa Família erhalten Mütter Direktzahlungen von 22 bis 200 Reais pro Monat, abhängig von der Anzahl Kinder und dem Monatseinkommen der Familie, das 140 Reais (72 Franken) nicht übersteigen darf. Im Gegenzug müssen sich die Mütter dazu verpflichten, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Heute profitieren 12,8 Millionen Familien in Brasilien von der Bolsa Família, die den Staat 2010 rund 13,4 Milliarden Reais (6,8 Milliarden Franken) gekostet hat. Laut Studien hat die Bolsa Família wesentlich zur Reduktion der Armut und der Unterernährung beigetragen. Gleichzeitig hat sich die Schulzeit erhöht. Konnten vor 10 Jahren 11,4 Prozent der 10-Jährigen nicht lesen, so sind es heute 6,5 Prozent.

Der Effekt der Bolsa Família geht jedoch weiter. Vom Programm profitieren nämlich nicht nur die Begünstigten. Das Geld, das der Staat umverteilt, gelangt unverzüglich wieder in den Umlauf. Das kommt nicht nur dem lokalen Gewerbe zugute, sondern der ganzen Wirtschaft. Wenngleich die Bolsa Família umstritten ist, beschweren sich in Wirtschaftskreisen die wenigsten darüber.

Zusammen mit den steigenden Minimallöhnen und vielen neuen Arbeitsplätzen hat die wirtschaftliche Einbindung der Armen dem Land nicht nur durch die Krise geholfen, sondern eine regelrechte soziale Umschichtung ausgelöst. 2003 gehörten noch rund 55 Prozent der Bevölkerung den zwei untersten Einkommensschichten an. Heute machen diese noch 37 Prozent aus. Mehr als 50 Prozent der Brasilianer zählen sich heute zum unteren Mittelstand, dem 2003 rund ein Drittel der Bevölkerung angehörte.

Der zunehmende Wohlstand hat auch dazu geführt, dass die Brasilianerinnen immer weniger Kinder gebären. 2010 hat die Fertilitätsrate mit einem Wert von 1,86 ein historisches Tief erreicht. Das Wachstum der brasilianischen Bevölkerung, die heute mit 191 Millionen die fünftgrösste der Welt ist, wird in geraumer Zeit stagnieren.
Unvollendeter Prozess

Brasilien gilt heute als Vorzeigemodell der Hunger- und Armutsbekämpfung. Zum zweiten Mal in Folge hat die Hilfsorganisation Action Aid das Land an die Spitze ihres Rankings gesetzt, das den Erfolg der Hungerbekämpfung bewertet. Mit José Graziano da Silva wurde ein Brasilianer an die Spitze der Uno-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft gewählt. Und das Welternährungsprogramm der Uno hat soeben zusammen mit der brasilianischen Regierung ein weltweites Kompetenzzentrum zur Hunger- und Armutsbekämpfung eingeweiht.

Trotz allem Lob ist die Nahrungsmittelsicherheit in Brasilien ein Problem geblieben, über dessen Beseitigung eifrig diskutiert wird. Einer der wichtigsten Anlässe in dieser Frage, die 4. Nationale Konferenz zur Nahrungsmittelsicherheit und Ernährung, fand im November in Salvador da Bahia statt. Behördenvertreter, verschiedene Organisationen sowie auffällig viele internationale Teilnehmer waren gekommen, um über die Errungenschaften und die Herausforderungen in der Hungerbekämpfung zu diskutieren: Themen wie Nahrungsmittelpreise, Landrechte oder Klimaerwärmung wurden diskutiert. Im Zentrum stand allerdings die Debatte um die Nationale Politik für Nahrungsmittelsicherheit. Diese soll das Recht auf Nahrung gesetzlich verankern und die Grundlage für ein landesweites Versorgungssystem schaffen.

Der Plan, der 19 Ministerien involviert und damit weit über Fome Zero hinausgeht, ist eine der letzten Initiativen des ehemaligen Präsidentin Lula da Silva, der sich die Besiegung des Hungers auf die Fahnen geschrieben hatte. Auch seine Nachfolgerin Dilma Rousseff hat sich hohe Ziele gesetzt: Sie will bis zum Ende ihrer Amtszeit 2014 die letzten 16 Millionen in extremer Armut lebenden Brasilianer aus der Misere befreien. Ein Programm zur Ausweitung der Sozialhilfe ist bereits verabschiedet. Die Weltbank wird es mit 8 Milliarden Dollar unterstützen. Ob Brasilien damit der Sieg gegen die Armut gelingt, bleibt abzuwarten. Doch allein schon der politische Wille, es ernsthaft zu versuchen, hebt Brasilien von vielen anderen Ländern dieser Welt ab.<

 

Quelle: http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/brasiliens_wuerdevolles_wachstum_1.13497935.html

>Brasiliens Elite zittert<

>Staatschefin nimmt Kampf gegen Korruption ernst

Ihr Vorgänger hat die Korruption lieber ausgeblendet oder billigend in Kauf genommen. Staatspräsidentin Dilma Rousseff scheint nun zum Angriff auf eines der tief verwurzelten Übel Brasiliens zu blasen – und die politische Klasse erzittert. Vergangene Woche nahm die Bundespolizei 35 Funktionäre fest, die unter dem Verdacht stehen, mehrere Millionen aus dem Etat des Tourismusministeriums abgezweigt zu haben, darunter Vizeminister Federico da Silva Costa. Der verantwortliche Minister Pedro Novais von der Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) wurde vor den Ermittlungsausschuss im Parlament zitiert.

Auch Transportminister Alfredo Nascimiento von der Republikanischen Partei (PR) musste wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten ebenso wie die rechte Hand Rousseffs, Präsidialamtsminister Antonio Palocci von der regierenden Arbeiterpartei (PT), gegen den die Justiz wegen ungerechtfertigter Bereicherung ermittelt.

Unter Beschuss ist auch Landwirtschaftsminister Wagner Rossi (PMDB), der in seinem Ministerium Dutzende Familienangehörige von Parteikollegen untergebracht haben soll. Er selbst konnte daran nichts Anrüchiges finden. In der vorigen Woche wurde bekannt, dass die Polizei in die Ermordung einer Anti-Mafia- Richterin verwickelt sein könnte.

Ihr werde die Hand nicht zittern bei der Bekämpfung von Korruption und Straffreiheit, egal welche Partei davon betroffen sei, verkündete die Staatschefin. Die oppositionelle Sozialdemokratische Partei (PSDB) sieht ein „System genereller Korruption“ in der Regierung, die Medien schreiben von „ethischer Säuberung“. „Bravo, endlich stellt ein Staatschef, und es musste wohl eine Frau sein, das Wohl des Landes voran, ohne auf die nächste Wahl zu schielen“, schrieb die Zeitung „Jornal da Cidade“. Der breiten Zustimmung der Bevölkerung kann sich Rousseff dabei sicher sein. Doch bei den betroffenen Koalitionspartnern läuten die Alarmglocken – insbesondere beim wichtigsten, der PMDB.

Die Partei unter Führung des zwielichtigen Senatspräsidenten und Regionalcaudillos José Sarney – dessen Familie regiert seit Jahrzehnten den nördlichen Bundesstaat Maranhao – hat besonders viel Dreck am Stecken, ist aber wichtiger Mehrheitsbeschaffer für die PT. Die PMDB und die PR boykottieren seither die gemeinsamen Sitzungen und drohen mit einer Blockade sämtlicher Gesetzesvorhaben der Regierung. Aus Angst vor solchen Konflikten rührte Rousseffs Vorgänger Luiz Inácio „Lula“ da Silva auch keinen Finger, als der erste linke Gouverneur von Maranhao, Jackson Lago, nach wenigen Monaten im Amt vom lokalen Wahlgericht abgesetzt und durch Sarneys unterlegene Tochter Rosanna ersetzt wurde.

Rousseff kann nun allerdings auf mehr Unterstützung hoffen. „Räumen Sie auf, Sie können mit uns rechnen. Lassen Sie sich nicht erpressen, das Volk ist auf Ihrer Seite“, erklärte der Senator Randolfe Rodrigues von der linken Partei Sozialismus und Freiheit. Mehr als ein Dutzend Senatoren haben sich der Initiative angeschlossen, sogar in der PMDB gibt es Leute, die die Korruption offenbar leid sind. „Vorwärts mit den Ermittlungen“, sagte deren Senator Pedro Simón. Auch der einflussreiche Ex-Minister Cristovam Buarque von der Demokratischen Arbeiterpartei betonte, es sei wichtig, dass die Korrupten im Gefängnis landeten, noch wichtiger sei es aber, dass keiner in der Regierung sei.

Vorerst verzögern die eingerichteten Ermittlungsausschüsse die reguläre Parlamentsarbeit und die Debatte von Gesetzen zu Steuern, Bergbau und Erdölförderung. Sollte Rousseff allerdings Erfolg haben, wäre dies nicht nur ihrer Popularität zuträglich, sondern es käme einer kleinen Revolution des politischen Systems gleich, dessen Entscheidungen allzu häufig auf Vetternwirtschaft und Stimmenkauf beruhen.<

 

Quelle: http://www.tagesspiegel.de/politik/brasiliens-elite-zittert/4548944.html

Dilma Rousseff
Dilma Rousseff

>Bürokratie-Dschungel in Brasilien<

>Einen Telefonanschluss mit Wohnung, bitte!

 

Von Jens Glüsing, Rio de Janeiro

 

Brasiliens Ämter trauen dem Volk nicht, und die Bürger misstrauen der Regierung. Mit großer Phantasie wehren sich Überlebenskünstler gegen die Bürokratisierung ihres Alltags. Wer als Einwanderer durchkommen will, muss bei ihnen in die Lehre gehen - und tricksen lernen.

 

Sechs Brötchen, ein Glas Marmelade und ein Päckchen Milch liegen auf dem Laufband im Supermarkt. Mist, jetzt habe ich meine Kundenkarte für die Sonderangebote vergessen. "Kein Problem", sagt die Dame an der Kasse, "wie ist denn Ihre Steuernummer?" Ich spule die elfstellige Zahlenkombination herunter, ich kann sie inzwischen auswendig. Mein Name und die Adresse blinken auf dem Kassenschirm auf, die Verkäuferin strahlt, der Kunde ist zufrieden, die Brötchen werden etwas billiger, und das Finanzamt weiß jetzt vermutlich, was ich soeben fürs Frühstück eingekauft habe.

 

Bei der Geburt erhält jeder Brasilianer zwei Gaben als Mitgift: ein Trikot des Lieblingsfußballvereins seines Vaters und die Steuernummer vom Finanzamt, genannt CPF, "Cadastro de Pessoa Física". Ohne CPF geht gar nichts: Man kann kein Konto eröffnen, keinen Kühlschrank kaufen, keinen Personalausweis verlängern, keine Reise buchen, bekommt keine Quittung im Zeitungskiosk und keine vergünstigten Kinokarten. Die CPF begleitet den Brasilianer (und in Brasilien lebenden Ausländer) bis ans Lebensende.

 

Dem CPF-Wahn liegen zwei Annahmen zugrunde:

 

1. Die Bürger betrügen den Staat, wo sie nur können.

2. Der Staat kassiert bei den Bürgern ab, wo immer er ihrer habhaft wird.

Kaum ein anderes Land besitzt ein so kompliziertes Geflecht an Steuern und Abgaben, das Ausmaß der Steuerhinterziehung ist immens. Die Folge: Der Staat erfindet immer neue Gesetze, Regeln und Register, um seinen Bürgern auch den letzten Real aus der Tasche zu ziehen. Gleichzeitig denken sich die Bürger immer neue Tricks aus, um das zu vermeiden. So ist einst das berüchtigte brasilianische "Jeitinho" entstanden, das phantasievolle und nicht immer legale Austricksen der allgegenwärtigen Bürokratie. Ein ganzer Berufsstand, die "Despachanten", lebt davon, dass er dem Bürger Gehör beim Souverän verschafft. Diesen Service lassen sie sich fürstlich bezahlen, schließlich dient ein Teil ihres Honorars dazu, den steinigen Weg durch die Amtsstuben zu ebnen. Auf Regierungsebene nennt sich dieses Verfahren "Tráfico de Influencia", das "Handeln mit Einfluss".

 

Ohne Cartório geht gar nichts

 

Die meisten Brasilianer sind überzeugt, dass sie sich im Leben nur auf eine Institution verlassen können: die Familie. Die eigenen vier Wände sind eine feste Burg, vor der Haustür beginnt Sodom und Gomorrha. Im Geschäftsalltag herrscht das Prinzip Misstrauen: Es reicht nicht, wenn man mit fester Hand den Kaufvertrag für ein Auto unterzeichnet und das Geld auf den Tisch legt, die Unterschrift muss zusätzlich in einem "Cartório" hinterlegt sein, einer Art Notariat. Dort wird man auch verheiratet und geschieden.

 

Jüngst wollte der 17-jährige Sohn eines Freundes für eine Judomeisterschaft allein von Rio nach São Paulo reisen. Die Eltern führen eine glückliche Ehe, es gibt keine Probleme mit Unterhaltszahlungen oder Kindsentführungen, der Junge hat einen Personalausweis, einen Reisepass und natürlich eine CPF. Das reicht bei Minderjährigen aber nicht aus: Die Eltern mussten beim Jugendrichter im Cartório hinterlegte Unterschriften vorweisen. Erst danach durfte der Jugendliche allein ins 400 Kilometer entfernte São Paulo fahren.

Cartórios sind leicht zu finden: In ihrer Umgebung häufen sich die Copy-Shops. Das Wort Xerox ist in den brasilianischen Wortschatz eingegangen und kann sogar konjugiert werden. Vor den Cartórios stehen meistens Dutzende Menschen mit dicken Papierbündeln unterm Arm Schlange. Seine Unterschrift hinterlegt man in einem dicken Buch, das aussieht wie früher die deutschen Schulkladden. Dort wird es bis in alle Ewigkeit verwahrt. Wenn man ein Auto kaufen möchte, zahlt man eine Gebühr und bekommt einen Zettel, der besagt, dass diese Unterschrift existiert und hinterlegt ist. Ein Cartório zu betreiben, ist ein einträgliches Geschäft: Jeder braucht es irgendwann einmal. Die Tradition stammt angeblich aus Portugal.

 

Regierungsamtliches Raubrittertum

 

Die ehemalige Kolonialmacht ist auch verantwortlich für eine weitere brasilianische Spezialität, den Foro. Einmal im Jahr muss ich einen Obolus an die brasilianische Kriegsmarine abführen, weil ich in der Nähe des Strands wohne. Diese ziemlich unverschämte Form des Geldeintreibens ist ein Relikt aus der Kaiserzeit. Der eine oder andere Abgeordnete unternimmt immer mal wieder einen Vorstoß, das regierungsamtliche Raubrittertum abzuschaffen, bislang ohne Erfolg. Was der Staat einmal hat, gibt er nie wieder her.

 

Brasilien ist ein Land des Überflusses, alles gedeiht in tropischer Üppigkeit. Das gilt auch für die Verfassung: Die ist von 1988 und fast so dick wie ein Telefonbuch. Nach den bleiernen Jahren der Militärdiktatur wollten sich die Brasilianer etwas Gutes tun und verabschiedeten eine besonders ausführliche Carta Magna. Da steht unter anderem drin, dass Armut verboten ist, wie Sportvereine organisiert sein müssen, wie hoch die Zinsen der Zentralbank sein dürfen und dass jeder Brasilianer das Recht auf eine würdige Unterkunft hat. Viele Gesetze sind Wunschdenken, sie stehen nur auf dem Papier.

So ist es zum Beispiel mit den Verkehrsregeln: Wenn sich die Mehrheit der Autofahrer nur lange genug weigert, das Handyverbot am Steuer zu befolgen, wird das Gesetz irgendwann wertlos. Man schafft es deshalb nicht unbedingt ab, es wird einfach ignoriert und stillschweigend zu Grabe getragen, nicht einmal die Polizei hält sich daran. "A lei nao pegou", sagt man dann: Das Gesetz hat es leider nicht geschafft, umgesetzt zu werden.

 

Bürokratischer Irrsinn

 

Der bürokratische Irrsinn will so gar nicht zu dem Image des tropischen, lebensfrohen Brasilien passen, doch die Regelwut lässt sich historisch erklären: Bis vor 15 Jahren war Brasilien eine Art Sowjetunion unter Palmen. Die Regierung meinte, sie sei für alle Lebensaspekte ihrer Bürger zuständig. Der Markt war gegen Importe abgeschottet, die nationale Industrie schaffte es jedoch nicht, die Nachfrage zu bedienen.

Das fing bei der Wohnungssuche an:

 

"Ich hätte gern eine Wohnung mit Telefonanschluss", sagte ich zur Maklerin, als ich 1991 nach Brasilien übersiedelte.


"Falscher Ansatz", antwortete sie, "du willst einen Telefonanschluss mit Wohnung."

Es gab damals nur eine Telefongesellschaft, und die war staatlich. Sie schaffte es nicht, alle Antragsteller mit Telefonleitungen zu versorgen, also blühte der Schwarzmarkt. Der Preis eines Apartments wurde nicht etwa vom Blick auf den Zuckerhut bestimmt, sondern von dem mausgrauen Telefon im Wohnzimmer. Am Wochenende waren die Tageszeitungen voll mit Verkaufsanzeigen für Telefonnummern, die Preise richteten sich nach dem Stadtviertel. Ich habe schließlich 3500 Dollar für meine Nummer bezahlt, das galt als Schnäppchen. Der Deal war natürlich illegal, aber jeder hat das so gemacht. Die Überschreibung erfolgte unter konspirativen Bedingungen in einem Café nahe dem Büro der Telefongesellschaft. Die Nummer habe ich bis heute, allerdings ist sie nichts mehr wert: Ende der neunziger Jahre wurde die Telefongesellschaft privatisiert, heute wird man mit Angeboten für Anschlüsse überflutet.

Mein Vorgänger hatte seinen Laptop an den brasilianischen Zoll verloren. Die Regierung wollte eine eigene Informatikindustrie aufbauen, deshalb belegte sie importierte Geräte mit hohen Schutzzöllen. Um das Notebook auszulösen, hätte mein Vorgänger den doppelten Anschaffungspreis bezahlen müssen, da überließ er das Ding lieber dem brasilianischen Staat.

 

Ich hatte mehr Glück, es gelang mir, meinen Laptop einzuschmuggeln. Bei der nächsten Ausreise habe ich ihn zusammen mit Fotoapparat und Aufnahmegerät beim Zoll registrieren lassen, auf diese Weise wurden die Geräte legalisiert. Das Protokoll mit der Seriennummer musste ich bei jeder Einreise vorzeigen. Wenn ich mir aus Deutschland ein neues Gerät mitbrachte, wurde die Einreise allerdings jedes Mal erneut zum Nervenkitzel. Erst vor wenigen Monaten hat der Zoll vor der Lobby der Geschäftsreisenden kapituliert und die vorübergehende Einfuhr eines (wohlgemerkt: eines!) tragbaren Computers erlaubt.

 

Die Kehrseite der Effizienz

 

Heute gibt es vier oder fünf private Telefongesellschaften, die einen mit Angeboten für Handys und Festnetznummern bombardieren, auch die Bürokratie funktioniert weitaus besser als früher. Meinen brasilianischen Führerschein habe ich innerhalb von drei Tagen verlängert, die Steuererklärung mache ich im Internet, meine brasilianische Bank ist schneller und effizienter als die deutsche. Neulich war ich auf meiner deutschen Bank in Hamburg, um Geld in die Schweiz zu überweisen:

 

"Wenn Sie das nicht übers Internet machen, dauert es mindestens drei bis vier Tage", sagte mir die Dame hinterm Schalter. "Heute ist Freitag, da geschieht überhaupt nichts mehr. Am Montag leiten wir Ihren Auftrag weiter, am Dienstag sieht sich die zuständige Dame in der Zentrale das an, am Mittwoch wird sie ihn bearbeiten, am Donnerstag ist das Geld in der Schweiz. Aber garantieren kann ich das nicht."

Meine brasilianische Bank erledigt Überweisungen am selben Tag. Nur bei größeren Summen dauert es länger, da will die Bank noch rasch am Tageszins mitverdienen. Das ist die Kehrseite der Effizienz: Ich wundere mich immer wieder, wie das Geld auf meinem brasilianischen Konto stetig schmilzt, auch ohne etwas abzuheben. Wenn es ums Abkassieren geht, sind die brasilianischen Geldinstitute sehr kreativ: Als ich einmal eine Jahreszusammenfassung meines Kontostands brauchte, sagte der Filialleiter: "Können Sie haben, aber nur wenn Sie eine Lebensversicherung bei uns abschließen."

Da kann meine deutsche Bank noch was lernen.

 

Jens Glüsing, 50, ist seit 1991 Korrespondent des SPIEGEL für Lateinamerika mit Sitz in Rio de Janeiro.<

 

Quelle: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,775098,00.html

>Cartório in Rio de Janeiro: Ohne notarielle Beglaubigung geht gar nichts<
>Cartório in Rio de Janeiro: Ohne notarielle Beglaubigung geht gar nichts<

>Kapitalismus: Endphase? - Crise terminal do capitalismo?<

von Leonardo Boff

Übersetzt von Michèle Mialane

 

>Ich bin überzeugt, dass die derzeitige Krise des Kapitalismus nicht nur struktur- und konjunkturbedingt ist. Wir befinden uns in dessen Endphase. Die geradezu geniale Fähigkeit des Kapitalismus, sich immer und überall anpassen zu können, neigt sich ihrem Ende zu. Es ist mir klar, dass jene These wenige Verfechter hat. Jedoch habe ich zwei gute Gründe, sie zu verteidigen.

 

Der erste Grund: die Krise befindet sich in ihrer Endphase, weil wir alle, insbesondere aber der Kapitalismus, die Grenzen unserer Erde überschritten haben. Wir bewohnen unseren ganzen Planeten, plündern ihn aus, zerstören sein empfindliches Gleichgewicht und erschöpfen seine Ressourcen und Dienste, so sehr, dass wir nicht mehr ersetzen können, was wir uns angeeignet haben. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb Marx in prophetischer Weise, dass der Kapitalismus dazu neige, die Quelle seines Reichtums und seine produktive Grundlage zu zerstören - Natur und Arbeitskraft. Das erleben wir nun.

Die Natur unterliegt nämlich einem großen, nie da gewesenen Stress, zumindest im vergangenen Jahrhundert, wenn man von den 15 großen Phasen des Aussterbens absieht, die sie in 4 Milliarden Jahren durchgemacht hat. Die extremen Naturerscheinungen in allen Erdregionen, die zu einer globalen Klimaerwärmung tendieren, bekräftigen die Marxsche These. Wie kann sich der Kapitalismus ohne die Natur fortpflanzen? Wir stoßen an eine nicht überschreitbare Grenze.

Kapitalismus macht Arbeit prekär oder ganz überflüssig. Nun ist eine gewaltige Entwicklung ohne Arbeit möglich. Der vollautomatisierte und computergesteuerte Arbeitsapparat produziert mehr und besser, fast ohne Arbeit. Direkte Folge ist die strukturell bedingte Arbeitslosigkeit. Millionen Menschen werden nie zur Arbeitswelt gehören, nicht mal als Reserveheer. Zuerst war die Arbeit vom Kapital abhängig, nun ist sie entbehrlich geworden. In Spanien wird nun 20% der Gesamtbevölkerung und 40% der Jugend von der Arbeitslosigkeit betroffen, in Portugal jeweils 12% und 30%. Das heißt, nun kommt eine ernste soziale Krise, wie sie derzeit in Griechenland wütet. Die ganze Gesellschaft wird einem Wirtschaftssystem geopfert, das nicht auf Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ausgerichtet ist, sondern auf die Rückzahlung der Schulden an das Finanzsystem und die Bankiers. Marx hatte Recht: die Ausbeutung der Arbeitskraft schafft keinen Reichtum mehr, sondern die Maschine.

Der zweite Grund hängt mit der humanitären Krise zusammen, die der Kapitalismus erzeugt. Früher wurde sie auf die Länder der Peripherie beschränkt; nun wird auch das Zentrum betroffen. Das wirtschaftliche Problem kann nicht durch den Abbau der Gesellschaft gelöst werden. Die Opfer der Krise , durch neue Kommunikationsmittel vernetzt, revoltieren und dadurch wird die bestehende Ordnung gefährdet. Immer mehr Menschen, insbesondere junge Leute, lehnen nun die perverse Logik der kapitalistischen Volkswirtschaft ab, die über die Finanzwelt die Nationen ihren Interessen und der Profitgier der spekulativen Gelder unterwirft, welche von einer Börse zur andern zirkulieren und Profite kassieren, aber nichts Anderes erzeugen, als immer mehr Geld für die Aktionäre.

Der Kapitalismus hat den Gift, der ihn töten kann, selber erschaffen: indem er von den ArbeiterInnen eine immer bessere technische Ausbildung forderte, damit sie einem beschleunigten Wachstum und einer stets steigenden Wettbewerbsfähigkeit gewachsen sein konnten, hat er unwillkürlich Menschen erschaffen, die denken können. Jene entdecken nun langsam, wie pervers ein System ist, das die Leute schindet im Namen einer rein materiellen Akkumulation, das sich als herzlos erweist, indem es immer mehr Effizienz fordert, mit der Folge, dass die ArbeiterInnen tief gestresst, ja sogar in die Verzweiflung, unter Umständen in den Selbstmord getrieben werden. Das erleben wir nun in mehreren Ländern, auch in Brasilien.

Die Strassen mehrere europäischer und arabischer Länder, die „Empörten“, die in Spanien und Griechenland massiv auf die Strasse gehen, sind Ausdruck einer Rebellion gegen das bestehende politische System, das im Dienste der Märkte und der kapitalistischen Akkumulationslogik steht. Die spanische Jugend ruft: “Wir haben mit keiner Krise, sondern mit Diebstahl zu tun!“ Die Diebe haben sich in Wall Street, im IWF und der Europäischen Zentralbank verschanzt: sie sind die Großpriester des globalisierten ausbeuterischen Kapitals.

Je tiefer die Krise wird, desto zahlreicher werden die Menschenscharen, die die extreme Ausbeutung ihres eigenen Lebens und des Lebens auf Erden überhaupt nicht mehr aushalten können. Und sie werden weiter rebellieren, gegen ein Wirtschaftsystem, das nicht an Altersschwäche, sondern am selbst erzeugten Gift und Widersprüchen dahinsiecht, und dabei die Mutter Erde geißelt und das Leben ihrer Töchter und Söhne verdüstert.<

Danke Leonardo Boff
Quelle: http://leonardoboff.wordpress.com/2011/06/22/crise-terminal-do-capitalismo/
Erscheinungsdatum des Originalartikels: 22/06/2011
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht: http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=5247

 

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Sobre o Autor

>Crise terminal do capitalismo?

 

por Leonardo Boff

 

Tenho sustentado que a crise atual do capitalismo é mais que conjuntural e estrutural. É terminal. Chegou ao fim o gênio do capitalismo de sempre adapatar-se a qualquer circunstância. Estou consciente de que são poucos que representam esta tese. No entanto, duas razões me levam a esta interpretação.

 

A primeira é a seguinte: a crise é terminal porque todos nós, mas particularmente, o capitalismo, encostamos nos limites da Terra. Ocupamos, depredando, todo o planeta, desfazendo seu sutil equilíbrio e exaurindo excessivamente seus bens e serviços a ponto de ele não conseguir, sozinho, repor o que lhes foi sequestrado. Já nos meados do século XIX Karl Marx escreveu profeticamente que a tendência do capital ia na direção de destruir as duas fontes de sua riqueza e reprodução: a natureza e o trabalho. É o que está ocorrendo.

 

A natureza, efetivamente, se encontra sob grave estresse, como nunca esteve antes, pelo menos no último século, abstraindo das 15 grandes dizimações que conheceu em sua história de mais de quatro bilhões de anos. Os eventos extremos verificáveis em todas as regiões e as mudanças climáticas tendendo a um crescente aquecimento global falam em favor da tese de Marx. Como o capitalismo vai se reproduzir sem a natureza? Deu com a cara num limite intransponível.

 

O trabalho está sendo por ele precarizado ou prescindido. Há grande desenvolvimento sem trabalho. O aparelho produtivo informatizado e robotizado produz mais e melhor, com quase nenhum trabalho. A consequência direta é o desemprego estrutural.

Milhões nunca mais vão ingressar no mundo do trabalho, sequer no exército de reserva. O trabalho, da dependência do capital, passou à prescindência. Na Espanha, o desemprego atinge 20% no geral e 40% e entre os jovens. Em Portugual 12% no pais e 30% entre os jovens. Isso significa grave crise social, assolando neste momento a Grécia. Sacrifica-se toda uma sociedade em nome de uma economia, feita não para atender as demandas humanas mas para pagar a dívida com bancos e com o sistema financeiro. Marx tem razão: o trabalho explorado já não é mais fonte de riqueza. É a máquina.

 

A segunda razão está ligada à crise humanitária que o capitalismo está gerando. Antes se restringia aos paises periféricos. Hoje é global e atingiu os paises centrais. Não se pode resolver a questão econômica desmontando a sociedade. As vítimas, entrelaças por novas avenidas de comunicação, resistem, se rebelam e ameaçam a ordem vigente. Mais e mais pessoas, especialmente jovens, não estão aceitando a lógica perversa da economia política capitalista: a ditadura das finanças que via mercado submete os Estados aos seus interesses e o rentitentismo dos capitais especulativos que circulam de bolsas em bolsas, auferindo ganhos sem produzir absolutamene nada a não ser mais dinheiro para seus rentistas.

 

Mas foi o próprio sistema do capital que criou o veneno que o pode matar: ao exigir dos trabalhadores uma formação técnica cada vez mais aprimorada para estar à altura do crescimento acelerado e de maior competitividade, involuntariamente, criou pessoas que pensam. Estas, lentamente, vão descobrindo a perversidade do sistema que esfola as pessoas em nome da acumulação meramente material, que se mostra sem coração ao exigir mais e mais eficiência a ponto de levar os trabalhadores ao estresse profundo, ao desespero e, não raro, ao suicídio, como ocorre em vários países e também no Brasil.

As ruas de vários paises europeus e árabes, os “indignados” que enchem as praças de Espanha e da Grécia são manifestação de revolta contra o sistema político vigente a reboque do mercado e da lógica do capital. Os jovens espanhois gritam: “não é crise, é ladroagem”. Os ladrões estão refestelados em Wall Street, no FMI e no Banco Central Europeu, quer dizer, são os sumo-sacerdotes do capital globalizado e explorador.

Ao agravar-se a crise, crescerão as multidões, pelo mundo afora, que não aguentam mais as consequências da super-exploracão de suas vidas e da vida da Terra e se rebelam contra este sistema econômico que faz o que bem entende e que agora agoniza, não por envelhecimento, mas por força do veneno e das contradições que criou, castigando a Mãe Terra e penalizando a vida de seus filhos e filhas.

Leonardo Boff é autor de Proteger a Terra-cuidar da vida: como evitar o fim do mundo, Record 2010.<

 

Quelle: http://leonardoboff.wordpress.com/2011/06/22/crise-terminal-do-capitalismo/